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Erdfahrt

Nachtschrift

Rolf Anschütz und das Japanrestaurant Suhl

 

Und was war nun das Besondere am japanischen Gastmahl in Suhl, das bis heute allen, die es erlebt haben, ein Lächeln in die Augen tritt?

Das Entscheidende war wohl wirklich das Heraustreten aus dem Alltag. Wer das Glück hatte, gleich zu Anfang baden zu können (bei den parallel laufenden Gastmahlen wurde das Bad bei der zweiten Gruppe dann inmitten der Essensgänge zelebriert), legte praktisch schon beim Gastmahl-Start mit der Kleidung den Alltag ab. Als erstes gingen die Frauen der Gruppe ins Wasser. Um dem Interessenten von heute eine Vorstellung davon zu geben: man saß in dem Becken. Das Wasser stand einem daher wortwörtlich bis zum Halse. Die Damen studierten als erstes ein Lied ein, um ihre Männer gebührend empfangen zu können. Viele erinnern sich, dass „Horch, was kommt von draußen rein“ ein beliebtes Lied dafür war. Und was kam von draußen rein? Die Männer der Gruppe, ebenfalls nackt. Diese stimmten dann in den Gesang ein. Im Wasser wurde japanischer Pflaumenwein bzw. später auch Cocktails gereicht, weiter gesungen und ein paar Fußspiele mit dem gegenüber sitzenden Partner veranstaltet. Der Wein tat seine Wirkung. „Nebenbei“ wurde das Wasser noch ein bisschen aufgeheizt (bis auf 38 °C, denn in Japan handelt es sich um Thermalquellen, in die man zum Bade steigt). Seitens der Mitwirkenden gibt es unterschiedliche Aussagen, wer dann zuerst aus dem Wasser ging. Traditionell wohl die Männer, denn die Frauen galten ja eher als Helferinnen des Mannes (in Japan gibt es eigens Badedamen, der Kaiser erließ einst ein Edikt, der das Zusammenbaden von Männern und Frauen untersagte).Doch nach Aussagen von Erika san, die viele Badezeremonien begleitete, stiegen meist die Frauen zuerst aus dem Wasser - 
Seiten aus dem Buch sehr zur Freude der meisten Männer, die gern so lange

 das heiße Wasser noch aushielten... Jeder bekam dann seinen Kimono, den er über die Unterwäsche zog und ging an Körper und Geist gereinigt zum Gastmahl. Im Gastmahlraum, der ganz nach japanischem Vorbild gestaltet war, gab es dann vielfältige Erläuterungen nicht nur zu den Speisen selbst, sondern auch zu Sitten und Bräuchen im fernen Osten – und garantiert viel Spaß, denn die meisten hatten zuvor noch nie mit Stäbchen gegessen. Das heute üblicherweise in einem Restaurant fernöstlicher Art gereichte zusätzliche Besteck war tabu. Wenn schon – denn schon, hieß es im „Waffenschmied“, und die zauberhaften Geishas und der Gastmahlleiter gaben sich redliche Mühe, mit Berichten und manchem Schmankerl aus Japan den Abend auch kulturell zu bereichern. Schließlich hatten alle vorher eine Art Ausbildung zu absolvieren. (Manche „Geishas“ berichten davon, dass sie Grundkenntnisse in Japanisch erwarben. An der Suhler Volkshochschule wurden dazu von Wolfgang Holler kurzzeitig sogar Kurse angeboten.) Die Menüs umfassten mindestens sieben Gänge. Da galt es etwa Algen zu kosten, hauchdünn geschnittene Scheiben Fleisch und rohen Fisch, eben Sushi in Suhl. Exotische Gemüse wie Bambussprossen kamen hinzu, die damals vielen völlig unbekannte Sojasoße. Zur Sättigung gab es immer wieder Reis. Und deutsches Bier, denn das sei hier besser als in Japan... Nicht allen Gastmahlteilnehmern schmeckte damals im Lande der verwirklichten Gleichberechtigung die Tatsache, dass der Mann in Japan das Sagen hat und die Frau sich erst aus dem Raum entfernen oder ihn wieder betreten darf, wenn der Mann das ausdrücklich genehmigt hat. Frauen hatten sich vornehmlich um das Wohl ihres Mannes zu kümmern, zum Beispiel nachzuschenken. Das Gros der Gäste allerdings nahm auch dieses Details als ein Stück fernöstlicher Kultur für vier Stunden gern an. Und am Ende verließen die Gäste das Japanrestaurant mit dem Gefühl, etwas Einmaliges, ein Stück „echtes“ Japan erlebt zu haben.

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